"Europa muss ein Projekt aller Menschen sein"

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Martin Speer und Vincent-Immanuel Herr (Bild: Phil Dera)

Vincent-Immanuel Herr (28) und Martin Speer (30) sind Aktivisten, Feministen und Autoren aus Berlin, die sich seit mehreren Jahren mit den Themen Europa, Youth Empowerment und Geschlechtergerechtigkeit beschäftigten. Die beiden veröffentlichen Artikel, starten Kampagnen und organisieren Veranstaltungen für ihre Thesen und Themen. Ihr aktuelles Projekt nennt sich #FreeInterrail und soll jungen Europäerinnen und Europäern eine kostenlose Zugreise auf dem Interrail-Bahnnetz ermöglichen.

 

Bitte erklären Sie uns doch einmal kurz, was es mit der Idee zu einem kostenlosen Interrail-Ticket genau auf sich hat. Und wie sind Sie auf diese Idee gekommen?

V. Herr: Die Idee von #FreeInterrail entstand während einer Interrailreise durch Europa. Als Teil eines Forschungsprojektes der Stiftungen Mercator und Heinrich-Böll haben wir 15 Länder besucht und dort mit vielen jungen Menschen gesprochen. Die Reise hat uns auch persönlich bereichert und uns die Vielfalt Europas und ihrer Menschen praktisch vor Augen geführt. Durch viele neue Freundschaften, Erfahrungen und Erlebnisse hat sich Europa für uns von Theorie in Praxis verwandelt. Auf der Reise haben wir aber auch gesehen, wie viele junge Menschen keinen Zugang zu Europa haben und wenig oder gar nicht in der Lage sind, ihren Heimatkontinent selber kennen zu lernen. Daraus entstand die Idee für #FreeInterrail: Alle EU-Bürgerinnen und -Bürger erhalten zu ihrem 18. Geburtstag einen Brief, dem ein Gutschein für ein freies Interrail-Ticket beiliegt. Der Gutschein kann innerhalb der nächsten sechs Jahre online oder am Schalter eingelöst werden und berechtigt ab diesem Zeitpunkt zu einer vierwöchigen Reise durch Europa.

 

Was erhoffen Sie sich davon, dass junge Menschen umsonst durch Europa fahren können sollen?

V. Herr: Durch #FreeInterrail werden mehrere aktuelle Probleme der EU gleichzeitig angegangen: Trends der Renationalisierung werden vorgebeugt und Vorurteile und Stereotype abgebaut. Eine gespaltene junge Generation wird wieder zusammengebracht, indem alle jungen Menschen, unabhängig vom finanziellen oder sozio-ökonomischen Hintergrund, Zugang zu Mobilität bekommen. Und verlorengegangenes Vertrauen in die EU und ihre Institutionen wird wiederhergestellt und gestärkt. Insgesamt sind wir uns sicher, dass Europa ein Kontinent sein muss, der auf persönlicher Begegnung und Austausch basiert. Nur wenn wir es schaffen, dass sich alle Europäerinnen und Europäer tatsächlich auch treffen können, hat Europa eine Chance als Union zusammenzuwachsen und gemeinsam Zukunft zu gestalten. Ohne #FreeInterrail bliebe die EU nur für eine bestimmt Gruppe zugänglich. Europa muss aber ein Projekt aller Menschen sein.

 

Haben Sie sich auch Gedanken darum gemacht, wie so etwas finanziert werden soll? Wie reagieren Sie auf Einwände, dass das Geld für das Interrail-Ticket am Ende an anderer Stelle fehlen könnte?

M. Speer: Da #FreeInterrail ein durch und durch europäisches Projekt ist, soll die Finanzierung über den EU Haushalt laufen. Je nach Nachfrage und ausgehandeltem Rabatt für die Tickets rechnen wir mit jährlichen Kosten zwischen 600 Millionen und 1,8 Milliarden Euro. Das klingt im ersten Moment nach einer sehr hohen Summe, stellt man es jedoch in Relation zu den positiven und nachhaltig wirksamen Effekten, die #FreeInterrail erzielen kann, ist es aus unserer Sicht eine vertretbare Summe und insgesamt eine kluge Investition in die Zukunft Europas. Das würde aus unserer Perspektive auch rechtfertigen, dass man die Gelder dafür aus weniger zukunftsweisenden und nachhaltigen Bereichen des EU-Budgets abzieht. Andere Jugendprogramme wie Erasmus+ oder Leonardo sollen darunter nicht leiden. Im Gegenteil: #FreeInterrail ergänzt diese sinnvoll.

 

Wie steht es aktuell um Ihr Projekt? Welche Unterstützung haben Sie bereits gewinnen können?

M. Speer: Eine Mehrheit des EU-Parlamentes unterstützt #FreeInterrail. Darunter führende Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus der Fraktion der Sozialdemokraten, Christdemokraten, Liberalen und Grünen. Auch zivilgesellschaftliche Kräfte wie die Jungen Europäischen Föderalisten oder das Progressive Zentrum sind Freunde der Idee. Die Europäische Kommission sieht #FreeInterrail grundsätzlich sehr positiv und bezeichnet es als „exzellente Idee“. In der Kommission überprüft man aktuell in enger Abstimmung mit den Bahngesellschaften und im Austausch mit den Parlamentariern und Nationalstaaten, wie und auf welche Art und Weise man das Projekt umsetzen kann. Ein Pilotprojekt soll es schon in diesem Jahr geben.

 

Welche Fortschritte erhoffen Sie sich für das Jahr 2017?

M. Speer: Zum einen arbeiten wir am Start einer europaweiten zivilgesellschaftlichen Kampagne zum Thema. Wir wollen zeigen, wie breit und vielfältig die Unterstützung für die Idee in allen Teilen Europas ist. Hier hoffen wir auf Rückenwind von Bürgerinnen und Bürgern. Schon heute kann man beispielsweise die change.org-Petition unterschreiben.  Zum anderen setzten wir darauf, dass die EU-Kommission einen klugen Weg findet, die Tickets für das Pilotprojekt zu verteilen. Wir schlagen eine Vergabe der Tickets nach dem Zufallsprinzip vor. Nur das würde dem Anspruch einer gerechten Verteilung der Interrail-Gutscheine gerecht werden.

 

Wohin sind Sie denn selbst schon per Interrail gereist und wie hat das Ihre Sicht auf Europa geprägt?

V. Herr: Per Interrail waren wir in folgenden Ländern: Belgien, Frankreich, Spanien, Italien, Griechenland, der Türkei, Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Österreich und Polen. Die Erfahrungen waren für mich entscheidend dafür, wie ich Europa wahrnehme und warum ich das Projekt der Europäischen Einigung als eine der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit ansehe. Dieser Kontinent ist voller spannender Menschen, Kulturen und Landschaften und er ist es wert, im Frieden geteilt und allen zugänglich gemacht zu werden. Ich persönlich möchte mein Leben einem Fortschritt dieses Projektes widmen und sehe in #FreeInterrail die Möglichkeit, einen entscheidenden Schritt in Richtung gemeinsamer Europäischer Identität zu gehen.

 

Vielen Dank an Martin Speer und Vincent-Immanuel Herr für das Gespräch. Mehr Informationen zu ihrer Kampagne finden Sie auf www.freeinterrail.eu oder auf www.herrundspeer.eu

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