"Demokratie muss immer erneuert werden"

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Bildnachweis: CC-BY Bütikofer

Reinhard Bütikofer (geb.1953) gehört seit 2009 dem Europäischen Parlament an und seit ist seit 2012 Vorsitzender der Europäischen Grünen Partei (EGP). Er ist Mitglied des Ausschusses für Industrie, Forschung und Energie (ITRE), stellvertretendes Mitglied des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten (AFET) und stellvertretendes Mitglied des Unterausschusses für Menschenrechte (DROI).

 

1. Welche Möglichkeiten bestehen außerhalb des wirtschaftlichen Faktors, den Prozess der Identifizierung der Bürger mit der Europäischen Union zu beschleunigen und zu verstärken?

 Wer die EU nur als wirtschaftliche Gemeinschaft versteht oder sie aktiv darauf reduzieren will, springt zu kurz. Die EU soll auch ein gemeinsamer Raum der Menschenrechte, der Freiheit und der Sicherheit sein. Die EU hat eine gemeinsame soziale Verantwortung, auch wenn für die großen sozialen Sicherungssysteme weitgehend die Nationalstaaten zuständig sind. Die EU hat sich gemeinsam dem Umwelt- und Klimaschutz verpflichtet. Tatsächlich erwarten viele Bürgerinnen und Bürger, dass die EU in allen diesen Bereichen „liefert“. Dabei geht es darum, das gemeinsam anzugehen, was einzelne Staaten alleine nicht in den Griff kriegen. Vieles geht in der EU zu langsam. Oft sind die Prioritäten nicht klar. Immer wieder muss man Kompromisse machen, um voranzukommen. All das macht ungeduldig. Aber die Reaktionen auf die britische Entscheidung, die EU zu verlassen, zeigen, dass die große Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger wohl weiß, wie wenig ein Nein zur EU den großen Problemen von heute angemessen wäre. Das zeigen Umfragen, laut denen die Zustimmung zur EU seit der Brexit-Entscheidung steigt.

 

2. Sind die Entscheidungen, welche auf europäischer Ebene getroffen werden, ausreichend transparent und ist die Europäische Union demokratisch genug?

 Nein, aber welche staatliche Institution kann schon glaubwürdig von sich behaupten, ausreichend transparent und demokratisch zu sein? Auch für die Demokratie gilt die Formel: semper reformanda - sie muss immer erneuert werden. Aber die Antwort auf einen Mangel an Transparenz kann dann nicht darin liegen, diese Institution wegzuwünschen, sondern man muss eben um mehr Transparenz kämpfen. Das Europäische Parlament ist durchaus transparent. Mehr Transparenz vertragen würde die Kommission, in der zu viel Macht in zu wenigen Händen konzentriert ist. Außerdem wäre mehr Transparenz im Rat wünschenswert, dessen Mitglieder, die Mitgliedsländer, in den meisten Fällen - da ist Deutschland einmal eine löbliche Ausnahme - dem jeweiligen nationalen Parlament weder vor noch nach einem europäischen Gipfel Rechenschaft darüber ablegen, welche Position sie warum dort vertreten wollen oder vertreten haben. Mehr Demokratie müsste deshalb vor allem heißen: mehr Kontrollmöglichkeiten für das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente, sowie bessere Zugänge für die Zivilgesellschaft.

 

3. Wie bewerten Sie die Bundespräsidentenwahl in Österreich?

Das österreichische Verfassungsgericht hat entschieden, dass bei der Wahlauszählung so viel geschlampt worden sei, dass sie wiederholt werden muss. Ich bin guter Hoffnung, dass Alexander van der Bellen auch in der Wiederholungswahl gewinnen wird. Sein knapper Sieg gegen den Kandidaten der FPÖ wurde damals in ganz Europa mit Erleichterung aufgenommen, weil so ein Rechtsaußen als österreichischer Präsident verhindert wurde. Dass diese Rolle einem Grünen zufiel, war eigentlich überraschend. Aber es zeigte, wie schwach dort die ÖVP und SPÖ, die traditionellen Volksparteien, inzwischen sind. Diese Vorgänge in Österreich haben Bedeutung über das Land hinaus. Wenn die Parteien der linken und rechten Mitte in ihrer Orientierungskraft zerbröseln oder gar anfangen, den Rechten hinterherzulaufen, drohen diese am Ende zu siegen. Wir Grüne müssen alles tun, um dem von uns aus den Weg zu verlegen.

 

4. Wie bewerten Sie das zunehmende Aufkommen anti-europäischer Gruppierungen hinsichtlich der Zukunft der Europäischen Union?

Äußerst gefährlich. Das sieht ja jeder.

 

5. Welche Erfolge konnten die Grünen in der jüngsten Vergangenheit auf europäischer Ebene erzielen und welche aktuellen Schwerpunkt und Projekte stehen derzeit im Fokus der Europa-Grünen?

Ganz aktuell haben wir durch unsere Proteste dazu beigetragen, dass das Freihandelsabkommen CETA, welches die EU mit Kanada verhandelt hat, nun doch der Ratifizierung durch die nationalen Parlamente unterworfen werden wird - obwohl die Kommission das eigentlich vermeiden wollte. Wir haben auch im europäischen Parlament durchgesetzt, dass es zum VW-Skandal einen Untersuchungsausschuss gibt, wozu sich der Bundestag leider nicht aufraffen konnte. Wir haben durchgesetzt, dass die EU anfängt, sich auch in der Finanzpolitik um ihre klimapolitische Verantwortung zu kümmern - Stichwort Carbon Divestment. Auf der Seite www.gruene-europa.de gibt es noch viele weitere Infos zu unserer Arbeit.

 

6. Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Europäischen Union?

Ganz aktuell wünsche ich mir einen prinzipienfesten Pragmatismus, der jetzt nicht abstrakte Wunschträume diskutiert, sondern die richtigen Prioritäten setzt. In vier Begriffen kurz gefasst: Investition statt Austerität; gemeinsame Sicherheit statt Alleingänge; Fairness statt Ausgrenzung und Spaltung; Demokratie statt Bürokraten- und Lobbyisten-Selbstherrlichkeit. Und ich wünsche mir mehr Stolz und Vertrauen auf die Leistungen und die Kraft der EU, die gemeinsame Zukunft zu meistern.

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